Sehen und gesehen werden?

„Du bist El-Roï – Gott, der mich sieht“ (Gen 16,13). 

Eine biblische Figur gibt Gott einen Namen. Einzigartig in der ganzen Bibel. In einer eigentlich ausweglosen und lebensbedrohlichen Situation wird sie von Gott gesehen und gerettet. Erstaunlich ist, dass die Figur oft selbst übersehen wird und wurde – in der biblischen Erzählung wie auch der Auslegungs- und Rezeptionsgeschichte. Es ist Hagar, die hier zu Gott spricht, der sich ihr zuvor offenbart hat. Eigentlich in einer vermeintlichen Nebenrolle an den Rand gedrängt, wird sie zur heimlichen Heldin der Erzelternerzählungen. 

Als Sklavin der strahlenden Hauptakteure der Verheißungsgeschichte Abraham und Sara gerät sie unfreiwillig in den Mittelpunkt des Geschehens, als das greise Paar kinderlos bleibt. Ohne Rechte muss sie sich in die Macht ihrer Besitzenden fügen. Missachtung und Misshandlung prägen auch ihre Schwangerschaft und ihr Leben als Mutter. Zweimal flieht sie in die Wüste, zweimal rettet sie der Engel Gottes.

Ihr Leben in Ohnmacht und Versklavung bildet heute eine Brücke der Erfahrungen Schwarzer US-amerikanischer Frauen zu den Erzelternerzählungen, die theologisch Früchte trägt.

Die Kunstgeschichte betont in den drei klassischen Bildmotiven der Zuführung Hagars an Abraham, der Verstoßung Hagars mit ihrem Sohn Ismael sowie der Rettung in der Wüste zumeist den Kontrast der jungen schönen Fremden gegenüber der alten, oft als Kupplerin porträtierten Sara. Hagar wird auf das Motiv der Erotik reduziert. 

Der jüdische Maler Moritz Daniel Oppenheim jedoch zeigt eine Innigkeit der Figuren, eine schüchtern-betretene Frau mit madonnenhaften Zügen, die viel stärker den biblischen Text berücksichtigt: Denn Gott selbst ist es, der der geschundenen Sklavin ihr Gesicht zurückgibt. Im Offenbarungsgeschehen wird sie zu einer Erzmutter, die narratologisch Abraham und Sara gleichgestellt ist.

Um einen Einblick zu bekommen, welche Rolle Hagar in der Bibelauslegung, im interreligiösen Trialog und in der Rezeption spielt, empfehlen wir zum Vertiefen:

Welt und Umwelt der Bibel Nr. 117 „Die Erzeltern. Der Anfang eines langen Weges“

(Mit einem Essay zu Hagar als Identifikationsfigur und Beiträgen zum Sehen in der Offenbarungstheologie der Erzelternerzählungen sowie der Darstellung Hagars auf Gemälden des Frankfurter Malers Moritz Daniel Oppenheim)